Unser Autor Konstantin Maier geht der Frage nach, was uns eigentlich immer wieder dazu bewegt, unvertraute oder sogar fremde Regionen und Teile der Erde zu erkunden.
Unsere Fotografin Anne-Sophie Stolz ist viel unterwegs. In diesem Schwerpunkt zeigt sie Bilder von ihren Reisen mit kurzen Gedankennotizen.
Text: Konstantin Maier
Fotos: Anne-Sophie Stolz
in den Tiefen Russlands fragte mich mal eine Ortsansässige, was wir hier in ihrem abgelegenen Ort denn machten. Ich erklärte ihr, dass wir auf einer Reise seien, um uns Orte wie ihren anzuschauen. Sie konnte damit nichts anfangen und schüttelte unverständig den Kopf: »Hier ist doch nichts, warum bleibt ihr nicht zu Hause, dort habt ihr doch alles.« Dieses Ereignis kommt mir heute sehr unwirklich vor. Zum einen in Anbetracht geschlossener Ländergrenzen und Reisewarnungen, die die Planung und Vorstellung von langen Reisen wie aus einer anderen Zeit wirken lassen. Zum anderen hatte die Frau auf eine Art auch recht: Wir wussten selbst nicht, was genau wir suchten. Wir waren jung, hatten das Abitur hinter uns und suchten nach irgendetwas auf unseren Reisen. Vor allem nach uns selbst wahrscheinlich. Da standen wir nun, mitten im Nirgendwo und wussten immer noch nicht, wer wir waren. Die Reise war für uns kein Urlaub, sondern etwas Existenzielles.
Doch was ist es, was uns am Reisen und an fernen Orten und Kulturen so fesselt? Muss man dafür wirklich um die halbe Welt fliegen oder kann man schon in kleinen Abenteuern abseits des Alltags diese Seite an sich und der Welt entdecken?
Sicherlich stellt die weltweite Corona-Pandemie schon jetzt absehbar eine wichtige Zäsur in der Reisekultur dar. Am 17. März vergangenen Jahres sprach das Auswärtige Amt eine weltweite Reisewarnung für Urlaubsreisen aus. Über Nacht brach der Tourismus ein. Eine riesige Industrie ging kaputt, und sie hat sich seither kaum erholt. Selten waren die Flughäfen so verwaist, klassische »Urlaubsorte« so auf sich gestellt wie in Zeiten der Pandemie. Orte der alltäglichen Flucht und Zerstreuung wurden immer weniger. Reisen konnten und können aktuell in der Pandemie kaum geplant werden. Zu hoch die Gefahr, von der Pandemie-Dynamik überrascht zu werden. Dabei wurde aber auch schlagartig deutlich, wie wichtig diese Ausbrüche aus den täglichen Mustern sind. Wie lange wir uns auf geplante Reisen und Urlaube (vor-)freuen und wie lange Zeit wir auch im Nachgang davon zehren können. Aber warum ist Reisen so wichtig? Warum entdecken wir, wenn wir die Ferne, das Fremde und andere erkunden, auch immer etwas von uns selbst?
Das Gefühl, woanders hinzuwollen, scheinen wir mit vielen anderen Menschen zu teilen. Irgendetwas in uns scheint sich immer nach dem Entfernten und Unbekannten zu sehnen, oder nach einer Abkehr aus der alltäglichen Sicherheit. Wenn wir auf Reisen gehen, dann tun wir nämlich vor allem eines: Wir verlassen unsere gewohnte Umwelt, in der wir jeden Schritt kennen und die uns dadurch Sicherheit gibt. In dieser Umwelt wissen wir auch uns selbst sicher zu verorten, wir kennen die Rolle, die wir uns angeeignet haben oder die uns zugeschrieben wird, und dadurch die Erwartungen, die an uns herangetragen werden. Wenn wir dann unsere Sachen packen, lassen wir diese Rolle gerne mal bewusst zu Hause. Wie einen alten Anzug hängen wir diese Rolle auf und schlüpfen erst wieder rein, wenn wir bei der Rückkehr die Haustür öffnen mit einem Stapel Post in der Hand. Unterwegs können wir jemand anderes sein, wir sind ohne den Ballast des Alltags unterwegs. Und diesen ganzen Kontext zu Hause zu lassen, fühlt sich erleichternd an. »Es gibt Menschen, die alltäglich in eine Rolle schlüpfen, weil andere es von ihnen erwarten« bestätigt die Psychologin und Reisetherapeutin Christina Miro. Während einer Reise seien wir aber anonym. »Daher ist es für diese Menschen leichter, sich in einem anderen, fremden Ort zu öffnen. Denn dann fallen die Erwartungen anderer weg. Dann fühlt man sich freier.«
Das Reisen habe heutzutage einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Ein Grund dafür: Urlaubsreisen sind für die meisten Menschen etwas Seltenes. Reisen beschränken sich meist auf die Urlaubstage. »Doch auch die Verbindung mit dem Gefühl von Freiheit, Lebendigkeit und Zufriedenheit erhöht den Wert des Reisens«, ergänzt Christina Miro.
Die beliebtesten Auslandsurlaubsziele der Deutschen 2020
Prozentwerte: Anteil an sämtlichen Reisezielen
Quelle: Reiseanalyse
Abstand vom Alltag oder von uns selbst?
Bei einer Befragung von 10.000 Menschen in Deutschland gaben knapp 64 Prozent an, Urlaub zu machen, um »mal Abstand vom Alltag zu bekommen«, wichtiger ist den Befragten nur »Kraft sammeln« oder »Entspannung«. Tatsächlich entspannt es uns, unterwegs zu sein. »Viele Menschen haben Schwierigkeiten sich zu Hause von dem Stress des Alltags zu distanzieren. Der Ortswechsel hilft dabei, den Abstand zu alltäglichen Aufgaben und Pflichten herzustellen und loszulassen«, erklärt die Therapeutin.
Unterwegs oder in der Fremde scheinen entsprechend auch selbst auferlegte Regeln nicht ganz so streng zu sein. Schon als Kind, so meine Erinnerung, bekam man das zu spüren: Es gab keine bestimmte Bettzeit, es gab kein lästiges Abendbrot, sondern zum Essen ging man ständig in Restaurants und obendrauf gab es auch noch einen Eisbecher. Diesen besonderen Modus entdecke ich auch an mir als Erwachsener. Statt mich über die Unzulänglichkeiten aufzuregen, staune ich oft darüber, wie die Dinge woanders »trotzdem« funktionieren. Was sicher auch damit zu tun hat, dass mich die Dinge in der Ferne im wörtlichsten Sinne nur vorübergehend tangieren. Und das entspannt.
Am anderen erkennen, wer wir sind
Unterwegs in der nächsten Umgebung zu sein, lässt uns oft schon schnell darüber nachdenken, wer wir eigentlich sind. Steigen wir in den Zug und hören einen anderen Dialekt, so verorten wir uns automatisch als Teil einer gefühlten Heimat. Am Fremden lässt sich nur allzu gut das Eigene erkennen. So treten wir manches Mal mit einer Reise auch eine innerliche Reise an. »Während des Reisens sammeln wir neue und manchmal sogar sehr prägende Erfahrungen«, erklärt Psychologin Christina Miro. Wenn wir mit fremden Kulturen in Kontakt treten, lernen wir dabei andere Denk- und Verhaltensweisen kennen. »Diese Erfahrungen können uns prägen und zur Veränderung unserer Denkweisen und Verhaltensmuster führen.« Mit anderen Worten: Wir können dadurch unsere Persönlichkeit weiterentwickeln. Wir lernen dabei, wie das Leben auf der anderen Seite der Welt funktioniert. »Nach einer Reise kommen wir nicht wieder so zurück, wie wir vorher waren«, so Christina Miro. Das alles trage zu unserer Persönlichkeitsentwicklung bei. Je weiter wir uns aber aus unserer Komfortzone bewegen, desto stärker sind diese Gefühle.
Magischer Alltag
Unterwegs sein heißt vor allem auch den Alltag bewundern, vor dem man zu Hause geflohen ist. Was letztlich nichts anderes ist, als das Leben an sich zu bewundern. All die Selbstverständlichkeiten, mit denen wir uns zu Hause arrangiert haben, die für uns gar nicht mehr sichtbar sind, erscheinen uns unterwegs in einem anderen Licht auf einmal verzaubert. Die Art, Kaffee zu kochen und ihn zu servieren, ein Mahl zuzubereiten, sich im Verkehr durch eine Stadt zu bewegen – im Schlaglicht der Ferne erscheint uns das alles wundervoll. Manchmal hallt so eine Reise auch nach. Falls sich auf dem Weg durch Flughafenterminals und Passkontrollen noch keine Ernüchterung eingestellt hat, dann kann man sich dieses Schlaglicht für ein paar Tage retten und seine Umgebung auch mal in einem magischen Licht eines Reisenden sehen. Manchmal reicht es hierfür schon, in einer anderen Geschwindigkeit unterwegs zu sein. Wenn ich zum Beispiel auf dem Fahrrad durch das Karlsruher Umland fahre, entdecke ich vieles, das ich mit dem Auto nie wahrgenommen habe. Natur, die sich über einige wenige Kilometer völlig verändert, Berge die aus dem Flachland entstehen. Rinnsale, die zu Flüssen werden. Alle diese Dinge sehe ich im Auto nicht.
Abenteuer vor der Haustür
Oftmals muss man gar nicht das Fremde suchen, sondern kann durch das Schlaglicht des Entdeckers auch schon vor der eigenen Haustür die Umwelt sehen. Im Zuge der Pandemie gab es ein regelrechtes Aufleben dieser sogenannten Tiny Adventures. Die Philosophie dahinter lautet: Abenteuer warten überall, du musst sie nur entdecken. Das kann auch Michael Oberdorfer, Inhaber der Reisebuchhandlung in Karlsruhe, bestätigen: »Natürlich wurden gerade zu Beginn der Pandemie viele Reisen auf innerdeutsche Ziele verlegt«. Davon profitierten auch mal Regionen, die sonst seltener auf der Wunschliste stünden, wie zum Beispiel der Kraichgau, erklärt der Buchhändler. Interessant sei auch, dass es bereits Unterschiede gäbe zwischen Karlsruhe und Heidelberg, wo er einen zweiten Handel
betreibt. Während in Karlsruhe vor allem das französische Jura oder die Südpfalz sehr beliebt und nachgefragt seien, sei in Heidelberg beispielsweise die Nachfrage nach dem Odenwald deutlich größer und der Schwarzwald spiele hier kaum eine Rolle.
Der lokale Trend geht auch Hand in Hand mit dem Campingtrend in Deutschland – denn in den eigenen vier Wänden reist es sich am sichersten. So wurden laut einer Statista-Umfrage im Juni 2020 insgesamt mehr als 12.700 Freizeitfahrzeuge neu zugelassen – über 9.100 Reisemobile und fast 3.600 Caravans. Im Vergleich zum Vorjahresmonat sind das fast 50 Prozent mehr. Ein Trend, den ich auch in meinem nahen Umfeld beobachten kann. Gleich mehrere Bekannte legten sich kleine Busse zu und bauten diese fleißig aus. An den Wochenenden fliehen sie in die Pfalz, übernachten bei einem Bio-Weingut oder posten Bilder auf Social-Media-Kanälen von schönen Aussichten auf Flüsse und Täler. Oder machen Urlaub in Italien. Wie wichtig das Unterwegssein ist, lässt sich hier ganz gut ablesen. Gefühlt entstammen 90 Prozent der Profilbilder in Social Media aus Reisesituationen. Wir mögen einfach dieses andere Ich, das da unterwegs ist. Warum auch nicht? Immerhin ist es entspannt, gelöst und blickt mit Vorfreude in den Tag hinein.
Reisende*r oder Tourist*in?
Doch dieses Wechselspiel in sozialen Medien trägt die sonderbaren Früchte des alten touristischen Dualismus in sich: unbekannte Orte durch andere entdecken, aber vor Ort gerne alleine sein. Dabei entstehen Phänomene wie »Instagrammable Orte«. Das sind Orte, die Reisende nur für ein Foto aufsuchen, weil sie es schon tausendfach bei anderen gesehen haben.
»Dieses Dilemma bekommen wir auch deutlich zu spüren, wenn die Kund*innen nach bestimmten Orten auf Instagram fragen, aber den Ort dann gerne für sich alleine hätten«, erklärt der Reisebuchhändler mit einem Lachen. Hierbei haben sich in der Pandemie seltene Momente geboten. Zum Beispiel konnte man sonst überlaufene Städte wie Venedig quasi für sich alleine entdecken. Man teilte sich den Markusplatz mit einzelnen und nicht wie sonst hunderten von Tourist*innen. In den Museen konnte man stundenlang Gemälde betrachten, vor denen man sonst weggeschoben wird. Gleiches galt für Sehenswürdigkeiten, die von sich selbst fotografierenden Menschen überlaufen werden.
Aber was wollen wir uns eigentlich mit solchen Praktiken beweisen? Dass wir auch ein gutes Leben haben und die Vorzüge der Freiheit genießen? Hier ist der Rückgriff auf die »Sehenswürdigkeit« nicht allzu weit. Denn für Tourist*innen stellt ein Foto vor einer Sehenswürdigkeit das Ableisten ihrer Schuldigkeit dar. »Man kann doch nicht nach Rom fahren, ohne das Kolosseum zu sehen«, sagte mein Geschichtslehrer auf der damaligen Exkursion. Diese Schuldigkeit habe ich damals wie heute nie so richtig verstanden. Vielleicht geht es dann nicht ganz ohne Regeln so weit in der Ferne. Vielleicht müssen wir uns mit den Selfies auch selbst vergewissern, dass es uns gibt in der Welt.
Dabei gibt es den Tourismus in unserem heutigen Verständnis noch gar nicht so lange. Gab es zunächst praktische Gründe zu reisen – zum Beispiel Pilgerfahrten oder Bildungsreisen –, begann am Ende des 19. Jahrhunderts der Tourismus in England. Thomas Cook gilt als Erfinder der Pauschalreise.
Es dauerte nicht allzu lange, bis das Reisen dadurch allen Schichten zugänglich wurde. Hier entsteht auch der Begriff des »Touristen«. Schon damals unterscheidet sich der Tourist vom Reisenden dadurch, dass Touristen in »Horden« oder »Scharen« auftreten und der Reisende ganz im Zeichen der Lehre und der Horizonterweiterung individuell unterwegs sei. Diese negative Note hat sich bis heute gehalten, wenn wir von »Touristenstädten« oder »Touristenhorden« sprechen.
David Walter ist jemand, der sich selbst als Reisenden beschreiben würde. Einfach, weil er schon immer gerne reist. Seine geplante Weltreise musste er wegen Corona erstmal verschieben. Urlaub würde der 31-Jährige seine Reisen nicht nennen. »Wenn ich unterwegs bin, ist es eigentlich selten entspannt.« Sei es ein Brückenbau in Sri Lanka oder die Erkundung von abgelegenen Flecken des indonesischen Dschungels. David Walter ist es dabei wichtig, authentische Erlebnisse vor Ort zu haben. »Ich weiß meistens nicht, wo ich am nächsten Tag übernachten werde, muss mich voll ins Ungewisse stürzen und das ist auch anstrengend.« Dabei landet er oft in touristisch unerschlossenen Gegenden. »Das ist schon nochmal eine andere Ebene von Erlebnis, wenn wirklich alles um dich herum anders ist, also auch die gesamte Kultur.« Und das mache Reisen für ihn aus. Erlebnisse, die seinen Horizont erweitern und ihn vor neue Herausforderungen stellen. Im Kern ginge es aber darum, den Alltag abzuschütteln, egal ob als Tourist oder als Reisender.
Aktuell rücken damit auch vermehrt klimabewusste Fragen in den Vordergrund: Wie schafft man es heute noch als Vielflieger*in, von schönen Landschaften zu schwärmen und dabei zu ignorieren, dass das eigene Verhalten massiv zu ihrer Zerstörung beiträgt? Viele verzichten heute auch deshalb bewusst auf Fernreisen. Nachhaltiger Tourismus scheint leider ein widersprüchlicher Begriff. Und so müssen alle selbst entscheiden, was ihnen eine Reise am Ende geben muss, damit sie sich – auch mit Blick auf den ökologischen Fußabdruck – lohnt. Denn eines muss uns immer bewusst sein: Jede Reise endet. Das muss sie sogar, sonst wäre sie keine. Und manchmal stellt sich am Ende der Reise auch so etwas ein wie eine Vorfreude auf das Bekannte, auf das Sichere, auf unser Zuhause. Und dann wissen wir auch meist, welche Dinge wir unterwegs vermisst haben und welche uns wichtig sind. Der Astronaut Alexander Gerst beschrieb nach seiner Rückkehr von einer 200-tägigen Weltraummission in einem Spiegel-
Interview: »Den frischen Wind um die Nase zu spüren. Das habe ich vermisst. Wind im Gesicht. Und Regen. Es sind solche kleinen Dinge, nach denen man sich sehnt.« Und so ist jede Reise, jedes Unterwegssein eine Auseinandersetzung mit uns und der Welt. Manchmal kommt man eben erst zum Schluss ganz bei sich an.
Passagiere auf deutschen Flughäfen (Mio.)
Quelle: Statista
Neuzulassungen Reisemobile (Mai)
Quelle: Destatis
Buchtipp zum Thema
Marco d’Eramo betrachtet unser touristisches Zeitalter, unsere modernen Reisegewohnheiten und deren Auswirkungen auf Las Vegas oder Venedig. Suhrkamp Verlag