„Ziel von Innovation muss eine nachhaltige Zukunft sein“
Was ist eigentlich eine Innovation? Das und vieles mehr hat Univ.-Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl im Interview erklärt. Sie ist am Lehrstuhl Innovations- und Technologiemanagement am KIT tätig und leitet das Fraunhofer-Institut für System- und Innnovationsforschung ISI.
Eine gekürzte Fassung des Textes findet sich im gedruckten miteinander-Magazin 2/2024. Das volle Interview gibt es hier zu lesen. Wir danken Marion Weissenberger-Eibl für die ausführlichen Antworten und wünschen erhellende Lektüre.
Innovation – was ist das eigentlich?
Marion Weissenberger-Eibl: „Das Wesen einer Innovation liegt darin, dass etwas Neues entsteht. Wichtig ist jedoch: Nicht alles, was neu ist, ist auch eine Innovation. Und: Nicht jede Neuerung wird zu einer Innovation. Erst wenn eine Neuerung – beispielsweise ein neues Produkt oder ein neuer Prozess – erfolgreich ihren Weg in die Praxis gefunden und sich am Markt durchgesetzt hat, gilt sie als Innovation.
Tatsächlich ist es so, dass rund 95 Prozent der Ideen bereits vor dem Markteintritt scheitern. Das heißt, nur 5 Prozent der Ideen schaffen die Markteinführung. Davon wird dann nur jede zweite auch zum Markterfolg, sprich: zu einer Innovation. Innovation hat also sehr viel damit zu tun, Ideen auszuprobieren und zu entwickeln. Folglich bringen Innovationen Veränderungen mit sich. Seit jeher sind Innovationen ein Instrument, um den technologischen und gesellschaftlichen Wandel zu gestalten. Sie führen uns vom „Heute“ ins „Morgen“. Innovationen ermöglichen beispielsweise weniger Nebenwirkungen von Medikamenten, dass Roboter die gefährliche Arbeit für den Menschen übernehmen oder dass mit Hilfe von intelligenten Messgeräten steuerbare Verbraucher wie Wärmepumpen effizient in das Stromnetz integriert werden.
Wir brauchen neuartige technische Lösungen ebenso wie alternative ökonomische und soziale Entwicklungen auf allen Ebenen: in Unternehmen, in Stadt, Region und Nation sowie weltweit. Nur so meistern wir komplexe Herausforderungen – allen voran die sogenannten „Grand Challenges“ wie beispielsweise den Klimawandel, die Energiekrise, die Mobilitätswende oder die Fragen der Armut und Migration. Es geht um Fragen, wie wir neue und digitale Arbeitswelten gestalten, uns künftig fortbewegen, das soziale Miteinander leben, Hunger und Armut begrenzen, unsere Energieversorgung sicherstellen und den Klimawandel abfedern. Die Entwicklungsspirale dreht sich mittlerweile so schnell, dass deutlich zu sagen ist: Wer stehen bleibt, verlieht. Kurzum: Innovationen sichern unsere Anpassungsfähigkeit in einem immer dynamischeren Umfeld.“
Wie unterscheiden sich Innovation und Transformation?
Marion Weissenberger-Eibl: „Bei Transformation handelt es sich um eine umfassende und längerfristige, unternehmenskulturelle Neuausrichtung von Produkten, Dienstleistungen, Prozessen oder Geschäftsmodellen. Transformation bezeichnet einen grundlegenden Wandel oder eine Umgestaltung eines Unternehmens oder einer Organisation.
Währenddessen fokussieren sich Innovationen in der Regel auf einen bestimmten Bereich oder ein spezifisches Problem. Inkrementelle Innovationen verbessern bestehende Elemente. Ist eine Innovation disruptiv, so bringt sie völlig neue Ansätze oder Technologien.
Innovationen zielen darauf ab, Wettbewerbsvorteile zu schaffen, neue Märkte zu erschließen, Effizienz zu steigern oder bestehende Probleme zu lösen. Das bedeutet, Innovationen können ein Mittel sein, die Unternehmen oder Organisationen bei ihrer Transformation unterstützen. Innovationen sind allerdings nicht per se gut. Innovation ist auch kein Selbstzweck. Unser Anspruch sollte sein, Innovationen zu schaffen, die nachhaltig wirken. Zum Beispiel sollten nicht nur wirtschaftliche Ziele im Vordergrund stehen. Innovationen sollten auch einen langfristig positiven Beitrag für unsere Umwelt und unsere Gesellschaft leisten.
Die Aufgabe von Innovierenden ist es nicht, „einfach zu innovieren“ und etablierte Routinen zu festigen. Stattdessen sollten sie ganzheitliche, sprich systemische Lösungen für – idealerweise – drängende gesellschaftliche Herausforderungen entwickeln, die etablierte Routinen überschreiten. Innovationen, die einen nachhaltigen und langfristigen positiven Beitrag leisten, haben das Potenzial, ein System grundlegend zu transformieren. Als Beispiele lassen sich Transformationsprozesse in Richtung Smart Grids – also intelligent gesteuerte Stromnetze –, vernetzter Mobilität, Kreislaufwirtschaft, Digitalisierung von Unternehmen nennen. Auch Geschäftsmodelle, die das wirtschaftliche Handeln von Unternehmen grundlegend hin zur Nachhaltigkeit verändern gehören dazu.“
Wie schafft man Innovationen?
Marion Weissenberger-Eibl: „Innovationen entstehen nicht nebenbei: Um neue Ideen in Produkte, Dienstleistungen und Prozesse umzusetzen, benötigen wir einen strukturierten Innovationsprozess. Wer neue Ideen braucht, muss erst einmal wissen, wo er danach suchen muss. Ein erster Schritt ist es also, zukünftige Entwicklungen vorauszudenken und Suchfelder zu definieren. Dafür ist es wichtig, dass wir uns mit technologischen und gesellschaftlichen Trends auseinandersetzen. Methoden der wissenschaftlichen Vorausschau – wir sprechen auch von Foresight – helfen dabei. Erst dann können Ideen im zweiten Schritt entwickelt, im dritten bewertet und ausgewählt und im vierten schließlich umgesetzt werden.
Große Unternehmen haben in der Regel eigene Abteilungen für solche Fragen. In kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) sieht es oft anders aus: Zeit und finanzielle Mittel sind begrenzt, Innovationsmanagement ist häufig Chefsache und daher in ständiger Konkurrenz mit dem Alltagsgeschäft.
Meine Teams am Lehrstuhl für Innovations- und TechnologieManagement iTM des KIT und am Fraunhofer ISI haben gute Erfahrungen damit gemacht, KMU bei der Entwicklung von Innovationen zu begleiten. Mittels verschiedener Foresight-Methoden schauen wir gemeinsam mit den Unternehmen in die Zukunft. Wir analysieren den gesellschaftlichen und technologischen Wandel und schaffen so die Basis für strategische Entscheidungen.
Kleine und mittlere Unternehmen haben dabei andere Bedürfnisse und Kapazitäten als große. Mitunter ist es deshalb sinnvoll, mehrere KMU mit ähnlichen Interessen zusammenzubringen. Eine gute Basis für strategische Entscheidungen liefern auch Trends und Entwicklungspfade, die bereits für verschiedene Branchen erarbeitet wurden: In meinem Team erarbeiten wir aktuell einen Technologie- und Trendradar, der Unternehmen beispielsweise bei der Identifikation aufstrebender Trends und der Analyse von Wettbewerbern unterstützen soll.
Meine Kolleginnen und Kollegen am Fraunhofer ISI haben sich in einem Fraunhofer-weiten Projekt zudem mit der Frage beschäftigt, welche Themen Forschung und Gesellschaft in Zukunft prägen. Herausgekommen sind 51 Zukunftsthemen, die eine hohe Relevanz für die angewandte Forschung haben, darunter zum Beispiel Quantencomputing, künstliche Photosynthese oder Small Energy Harvesting, also die Gewinnung von kleinen Energiemengen aus verschiedenen Umgebungsquellen wie Licht, Wärme, Vibrationen oder Bewegung.
Neben der kontinuierlichen, aktiven und strategischen Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften, Trends und Technologien, sind die Akteure, die am Innovationsprozess beteiligt sind, entscheidend. Die Innovationsforschung zeigt: Je vielfältiger ein Team ist, desto besser. Viele Unternehmen haben erkannt, dass sie ihre Ideen nicht mehr alleine erarbeiten können. Deshalb setzen einige inzwischen auf Open Innovation oder Co-Creation: das bedeutet, sie arbeiten mit anderen Unternehmen und Forschungspartnern oder binden Kundinnen und Anwender in den Innovationsprozess ein. Die vermehrte Zusammenarbeit mit Start-ups spricht auch dafür, dass Unternehmen erkannt haben, wie wichtig die Einbeziehung von weiteren Akteuren ist. Und auch aus der Mitgliedschaft in branchenübergreifenden Netzwerken beispielsweise können Unternehmen wichtige Impulse ziehen. Seit 2019 organisieren sich zum Beispiel namhafte Unternehmen aus Ostwestfalen-Lippe wie Dr. Oetker, Miele, Phoenix Contact und Schuco in der Hinterland Allianz, um Mittelständler und Start-ups zusammenzubringen und Themen wie Digitalisierung und innovative Unternehmenskultur gemeinsam anzugehen.
Grundsätzlich gilt: Wer Innovationen will, muss auch in Innovationen investieren. Unternehmen sollten Mittel und Möglichkeiten bereitstellen, damit Mitarbeitende Zeit und Räume haben, gute Ideen zu erfolgreichen Innovationen weiterzuentwickeln. Innovation braucht Kontinuität und ein stetiges Interesse daran, was die Zukunft bringen wird. Die Digitalisierung mit ihren Möglichkeiten zum Informationsaustausch und zum Dialog unterstützt uns dabei. Vor allem aber kommt es darauf an, eine positive Innovationskultur vorzuleben. Es liegt an den Führungskräften, Rahmenbedingungen und Experimentierräume zu schaffen, in denen Austausch und Vernetzung stattfinden kann. Wer Offenheit und Neugierde fördert, abteilungsübergreifend und für alle, der wird auch in Zukunft auf einen großen Schatz an Ideen zurückgreifen können, die das Potential haben, zu einer echten Innovation zu werden.“
Welche Innovationstreiber gibt es?
Marion Weissenberger-Eibl: „Schön, dass Sie mich das fragen. Das ist nämlich genau eine der Fragen, mit denen wir uns am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI beschäftigen. In diesem Zusammenhang erforschen wir seit vielen Jahren auch, wie es um die Fähigkeit von Deutschland bestellt ist, Innovationen hervorzubringen. Unter anderem erarbeiten wir mit dem Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung seit vielen Jahren im Auftrag des BDI den Innovationsindikator. Dieser greift die neusten Erkenntnisse der Innovationsforschung auf und überführt sie in ein operationalisiertes Messkonzept. Der Innovationsindikator 2023 untersucht, wie fähig die Innovationssysteme von 35 Volkswirtschaften sind, folgende Aufgaben zu erfüllen:
• Innovationen hervorbringen
• Nachhaltig wirtschaften
• Zukunftsfelder durch Schlüsseltechnologien entwickeln
Es gibt verschiedenen Arten von Innovationstreibern. Deshalb berücksichtigt der Innovationsindikator auch viele verschiedene Einzelindikatoren, um die Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaften zu bewerten. Ich möchte einige ausgewählte Innovationstreiber nennen und aufzeigen, wie sich diese in die eben genannten Aufgabenfelder einordnen und auch messen lassen:
• Zunächst zum Aufgabenfeld: Innovationen hervorbringen
Forschung und Entwicklung sind entscheidende Innovationstreiber. Investitionen in die Forschung und Entwicklung von neuen Technologien befördert neue Ideen und Lösungen. Auch der Wissens- und Technologietransfer zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen untereinander und zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und wirtschaftlichen Akteuren ist entscheidend. Im Innovationsindikator messen wir deshalb unter anderem die Ausgaben in Forschung und Entwicklung der Wirtschaft und der Wissenschaft. Auch Ko-Patente aus Wissenschaft und Wirtschaft fließen in die Bewertung der Innovationsfähigkeit ein.
• Nun zum Aufgabenfeld: Nachhaltig wirtschaften
Auch Nachhaltigkeitsziele treiben Innovationen voran. Wir erreichen unsere Ziele im Hinblick auf beispielsweise saubere Energie, Energieeffizienz und umweltfreundliches Wirtschaften nur mithilfe innovativer Lösungen. Staatliche und gemeinnützige Förderprogramme in diesem Bereich treiben Innovationen an. So misst der Innovationsindikator zum Beispiel auch die Forschung und Entwicklung erneuerbarer Energien und die Energieeffizienz als Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Ebenso werden z.B. die Einstellungen der Bevölkerung zu Umweltthemen berücksichtigt.
• Grundsätzlich können Regierungen und Behörden auch durch Regulierungen, Anreize und Förderprogramme Innovationen vorantreiben. Zum Beispiel können Subventionen für erneuerbare Energien oder Vorschriften zur Energieeffizienz die Entwicklung und Einführung neuer Technologien vorantreiben. Der Innovationsindikator nimmt in diesem Zusammenhang zum Beispiel auch die Umweltsteuern der Volkswirtschaften in den Blick.
• Kommen wir nun zum dritten Aufgabenfeld: Zukunftsfelder durch Schlüsseltechnologien entwickeln
Technologischer Fortschritt ist ebenso ein Innovationstreiber. Neue Technologien ermöglichen neue Lösungen und Ansätze. Im Bereich der Energie, Gas und Wasser denke ich da an erneuerbare Energien, die Speicherung von Energie, Sensortechnologie und die Datenanalyse. Der Innovationsindikator misst in diesem Zusammenhang Patent- und Markenanmeldungen sowie wissenschaftliche Publikationen im Bereich der einzelnen Schlüsseltechnologien. Ein Innovationstreiber kann auch die Dynamik des Marktes sein. Nehmen wir steigende Energiekosten als Beispiel. Um sich im Wettbewerb behaupten zu können, kommen Unternehmen nicht daran vorbei auf solche Veränderungen zu reagieren. Ein Einzelindikator, den der Innovationsindikator hierbei im Blick hat, ist zum Beispiel das Handelsbilanzsaldo im Bereich der einzelnen Schlüsseltechnologien.“
In welchen Forschungsbereichen sind Innovationen besonders wichtig?
Marion Weissenberger-Eibl: „In allen. Vorhin habe ich erwähnt, dass meine Kolleginnen und Kollegen hier am Fraunhofer ISI 51 Zukunftsthemen identifiziert haben. Sie alle werden Forschung und Gesellschaft, genauso aber auch Zukunftsmärkte prägen. Ich möchte ein paar exemplarisch herausgreifen:
Zunächst ein Beispiel der sogenannten Gesellschaftsgestalter. Diese Zukunftsthemen können einen großen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen und Umweltaspekte haben: Beim so genannten Geoengineering geht es beispielsweise um bewusste und zielgerichtete Eingriffe in das Klimasystem. Geoengineering hat zum Ziel, der vom Menschen gemachten Klimaerwärmung entgegenzuwirken. Manche Forschungen fokussieren sich auf physische Veränderungen, um einzelne Landschaften zu schützen. So gibt es Ideen, Gletscher mit Mauern zu umgeben, um zu verhindern, dass Tauwasser den Meeresspiegel anhebt. Oder es werden Pumpen an Gletschern installiert, die dafür sorgen, dass das Eis nicht schmilzt. Die Auswirkungen von Geoengineering können global sein. Hieraus ergibt sich für mich die Notwendigkeit, internationale Regelungen zu treffen.
Nun ein Beispiel der sogenannten Durchstarter. Für diese Zukunftsthemen sind eine besonders dynamische Entwicklung und eine sehr hohe Relevanz im Jahr 2030 zu erwarten. Sie sind als Nischenthemen bereits bekannt und werden an Bedeutung gewinnen: Cyber-Angriffe nutzen Sicherheitslücken in Software aus, um ihre Ziele zu erreichen. Daher arbeiten weltweit Expert*innen an der Verbesserung der IT-Sicherheit. Cyber Reasoning Systems beispielsweise sind
Cyber-Abwehrsysteme, die Angriffe simulieren und dabei Sicherheitslücken finden und auch sofort beheben. Die Systeme laufen automatisiert, also ohne menschliche Unterstützung. So können sie mit dem exponentiellen Wachstum schritthalten. Dieses schnelle Arbeiten birgt großes Potential für die Zukunft der IT-Sicherheit.
Zuletzt noch ein Beispiel der Langläufer-Zukunftsthemen, die bereits heute eine hohe Relevanz aufweisen, allerdings in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen werden: Denken in Kreisläufen gilt als ein Gebot der Stunde und ein Schlüssel für nachhaltiges Wirtschaften. Die Idee einer Circular Economy – zu Deutsch Kreislaufwirtschaft – setzt bei der Endlichkeit natürlicher Ressourcen an. Ihr Leitsatz heißt: Reduce, Reuse, Recycle. Es geht also darum, alle Produkte von Beginn an so zu konzipieren, dass sie (1) weniger Ressourcen brauchen (reduce), (2) erneut verwendet (reuse) und (3) am letzten Ende ihres Produktlebens recycelt werden können. Allein das globale Bevölkerungswachstum macht einen schonenden Umgang mit insbesondere natürlichen Ressourcen notwendig und daher klingt es zukunftsträchtig, Forschung in dieser Richtung zu intensivieren.
Sie sehen also, die Innovation spielt in allen Forschungsbereichen eine besondere Rolle. Ziel muss es in allen sein, auf eine nachhaltige Zukunft zuzusteuern. Die 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele, die die Vereinten Nationen formuliert haben, geben den Rahmen vor. Sie zeigen auf, in welchen Bereichen wir mit Hilfe von Innovationen große Herausforderungen zu meistern haben. Daran sollten wir auch weiter anknüpfen und diese im Blick behalten.“
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