Es ist halt nicht einfach

Interview: Konstantin Maier

Heiner Schanz beschäftigt sich seit knapp 30 Jahren mit dem Thema Nachhaltigkeit. Er ist seit 2014 Leiter der Professur für Environmental Governance und seit Oktober 2019 gleichzeitig Dekan der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen. Während seines Werdegangs wurde aus einem Randthema eine Diskussion der breiten Masse. Dabei untersucht Schanz in seinen aktuellen Publikationen vor allem lokale Ökonomien.

Lokale Betriebe scheinen nachhaltiger zu sein als große Supermärkte, das betrifft sowohl Menschen in der Großstadt als auch auf dem Land. Sollen wir als Verbraucher lieber zu lokalen Produzenten gehen? Können wir mit unseren Konsumentscheidungen wirklich etwas bewegen?

Verbraucher sind natürlich entscheidende Faktoren; denn ein Betrieb kann am Ende nur überleben, wenn er genug Kundschaft hat. Deswegen ist es aber auch wichtig, dass man sich systematisch und dauerhaft auf deren Angebot einstellt und nicht nur zu diesen Betrieben geht, wenn man gerade mal eine Brezel braucht, im Gegenteil – wichtig wäre bewusst, dauerhaft und verlässlich dort einzukaufen und damit auch zu akzeptieren, dass es dort vielleicht ein Angebot in geringerer Breite gibt als im Supermarkt.

In Karlsruhe wurde gerade beschlossen, dass die Autos aus der Innenstadt weiter entfernt werden sollen. Was per se erstmal ein guter Gedanke scheint, aber für viele Händler ein großes Problem darstellt. In der Realität zeigte sich auch vor Covid-19, dass nicht jeder mit dem Rad oder mit der Bahn seine Einkäufe erledigt. Fahren deswegen die Menschen aus Bequemlichkeit viele lieber zum Discounter mit großem Parkplatz?

Das ist genau das, was sich beobachten lässt. Es gibt da sehr schöne Beispiele, die wir auch erforscht haben. Die Stadt Leutkirch im Allgäu ist eines davon, die das wunderbar zeigt. Da hat man in den 70er und 80er Jahren eine Einkaufsmeile außerhalb des Zentrums angelegt, indem man alle großen Läden angesiedelt hat. Die Innenstadt hat eine schöne Fußgängerzone mit alten Gebäuden, an denen man erkennt, dass sie etwas mit Lebensmitteln zu tun hatte. Die stehen jetzt aber leer. Die kamen zu sehr unter Druck, weil man eben dort nicht mehr einkauft. Das meine ich mit der Herausforderung, die eben darin liegt die großen Hebel – Struktur- und Ordnungspolitik – in den Griff zu kriegen. Prozesspolitik hingegen, soll das Verbraucher-Bewusstsein gestalten. Dabei sind Vorgaben wie: ihr müsst jetzt alle vegan essen oder ähnliches, nicht so hilfreich. Mit Bewusstseinsbildung, und das zeigt sich dank unseren Forschungen sehr gut, können wir größere Hebel bewirken – und das geht eben ganz früh los: im Kindergarten, in der Schule …

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»Und wenn sie sich den Selbstversorgungsgrad von Deutschland anschauen, dann liegen wir mit Gemüse bei etwa 30 Prozent. Das ließe sich auch nicht wesentlich steigern. Damit sind wir auf internationale Märkte angewiesen.«

Heiner Schanz

Das merkt man bei sich selbst am besten, die Beziehungen zu Lebensmitteln und Kochen kommen meist aus diesen frühkindlichen Erinnerungen: Kochen mit der Mutter oder mit dem Großvater im Garten Kirschen essen. Fehlen diese Beziehungen zu den Lebensmitteln auch als Naturprodukte?

Da muss man aber schon sehr aufpassen: Man muss sich bewusst machen, dass der kleine Lebensmittelhandel nicht per se besser ist als ein Supermarkt. Es gibt natürlich auch Supermärkte, die hohe Qualität und bewusst gute Produkt anbieten. Small is beautiful ist zum Beispiel einer, der ganz großen Fehler in der Nachhaltigkeitsdebatte. Ein anderes Missverständnis ist die Annahme, dass lokale oder regionale Ernährung per se eine nachhaltige sei. Aus ökologischer Sicht ist regionale Ernährung sogar hochproblematisch. Die große Herausforderung ist, dass wir in Systemen denken müssen. Die Frage ist aber – in welchem System? Betrachte ich meine Familie als System, die Stadt, die Nation oder die Welt? Und natürlich müssen wir die großen Nachhaltigkeitsdebatten, wie das Artensterben, CO2-Ausstöße, Umweltverschmutzung und eine wachsende Weltbevölkerung mit einbeziehen. Das sind natürlich ganz klar globale Themen. Für diese Themen ist unsere Grenzziehung irrelevant. Ob das System, das ich betrachte funktioniert, hängt eben von meiner jeweiligen Systemgrenzziehung ab. Daraus ergeben sich oft automatisch Widersprüche. Beispielsweise beim Thema Ernährung: Wenn sie sich klimabewusst ernähren möchten, dann würde ich ihnen ganz dringend raten sich vegetarisch zu ernähren, am besten natürlich auch biologisch und regional. Nur haben sie dann schon das Problem, dass wir, saisonale bedingt, Monate haben in denen nichts wächst. Und wenn sie sich den Selbstversorgungsgrad von Deutschland anschauen, dann liegen wir mit Gemüse bei etwa 30 Prozent. Das ließe sich auch nicht wesentlich steigern. Damit sind wir auf internationale Märkte angewiesen. Diese Märkte funktionieren aber nach einem dauerhaften Angebot und Nachfrage-Prinzip und nicht nur dann wenn wir sie mal eben kurz brauchen. Und da fängt es an, sich in der Logik zu widersprechen. Dann merken sie schnell, dass vegetarische Ernährung aus rein lokaler Erzeugung kein System für alle sein kann. Vor allem dann nicht, wenn sie zusätzlich auf eine biologische Ernährung setzen, weil diese, für die gleiche erzeugte Menge, deutlich mehr Anbaufläche benötigt. Bei Getreide ist das zum Beispiel bis zu 50 Prozent mehr. Dann merken sie, dass auf einmal eine gegenläufige Bewegung entsteht. Und diese Komplexität zwischen den Systemebenen macht die Nachhaltigkeit zu großen Herausforderung.

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»Die Frage der Mengen müssen mitgedacht sein bei den sogenannten Economies of Scope. Sie kommen also immer auf die Marktzusammenhänge zurück und dann macht es plötzlich Sinn die Logistik miteinzubeziehen, die dann insgesamt keine große Rolle mehr spielt.«

Heiner Schanz

Die Debatte scheint vor allem im Bereich von Wissen und Wissensvermittlung getrieben zu sein. Führen wir ihrer Meinung oft Scheindebatten in der Öffentlichkeit?

Es geht ganz oft um Economies of Scale, die Frage der Mengen müssen mitgedacht sein bei den sogenannten Economies of scope. Sie kommen also immer auf die Marktzusammenhänge zurück und dann macht es plötzlich Sinn die Logistik miteinzubeziehen, die dann insgesamt keine große Rolle mehr spielt. Der CO2-Transportanteil eines Lebensmittels liegt im Schnitt gerade mal zwischen 10 und 12 Prozent. Das ist also der geringste Anteil seines CO2-Fußabdrucks. Auch Verpackungen schenken wir viel Beachtung. Das ist zwar zwar symbolisch wichtig, aber die Verpackung an sich ist sicherlich nicht das ganz große Problem. Immerhin gibt es schon Recyclingssysteme für PET mit in sich funktionierenden Kreisläufen. Trotzdem wollen wir kein Plastik, weil wir glauben, dass wir damit besser stehen.

Das liegt sicherlich auch daran, dass wir Dinge wie Verpackungen eben sehen und verstehen. Plastik kann der Einzelne nachvollziehen, aber wenn es Skalierungen und Weltmarktzusammenhänge geht, steige ich als Verbraucher aus.

Wenn sie nachhaltig leben wollen, müssen sie Systemversteher sein. Ein System zu verstehen ist aber eine echte Herausforderung. Sie haben nicht nur die Komplexität der einzelnen Themen und Dynamiken, sondern auch Paradoxien. Ein bekanntes Paradoxon ist der Rebound-Effekt. Den können sie bei dem Thema Mobilität schön betrachten. Wenn sie vergleichen, wie sich Mobilität entwickelt hat, dann sehen sie eine enorme Zunahme des Autoverkehrs. Gleichzeitig haben wir eine enorme Effizienzsteigerungen bei den Motoren. Die Motoren sind heute wesentlich sparsamer und umweltfreundlicher als sie noch vor 20 Jahren waren. Wir hatten also eigentlich eine positive Entwicklung, die nun dadurch aufgefressen wird, dass mehr gefahren wird. Weniger Verbrauch, geringer Kosten und dadurch mehr Fahren – das ist ein klassischer Rebound-Effekt.
Wenn sie an einer Stelle drücken, kommt es an anderer Stelle wieder hoch – Bewegung erzeugt Gegenbewegung. Ich gebe ihnen noch ein Beispiel mit der berühmten Gurke in Plastikfolie. Man muss sich ja fragen, warum so eine Folie überhaupt an eine Gurke kommt. Es ist eine Schutzmaßnahme. Wenn keine Folie benutzt wird liegen die Transportschäden und der damit verbundene Verlust an Gurken bei etwa 30 Prozent. Jetzt überlegen wir, was das an Mehraufwand für die Produktion bedeutet um diese 30 Prozent ausgleichen und wieder aufholen zu können – an Wassereinsatz, Energie, CO2-Emissionen, Landverbrauch, etc. Heißt im Ergebnis: Wir kommen eigentlich besser raus, wenn wir das Plastik einfach recyceln und in die Gelbe Tonne werfen.

Ilustration

»Wenn sie an einer Stelle drücken, kommt es an anderer Stelle wieder hoch – Bewegung erzeugt Gegenbewegung.«

Heiner Schanz

Das ist ein ganz schönes Beispiel für alltägliche Diskussionen oder Grabenkämpfe, die geführt werden im Zusammenhang mit dem Thema Nachhaltigkeit. Oft führen wir da „Besserwisser-Diskussionen“, wie ihr Beispiel auch gut zeigt. Diese Diskussionen über Hintergrundwissen machen das Thema oft anstrengend, es gibt gefühlt immer einen der es noch besser weiß, der es noch richtiger macht.

Sie müssen sich klarmachen, dass Nachhaltigkeit kein Ziel ist, sondern ein kontinuierlicher Anspruch. Ich forsche jetzt schon 30 Jahre zu dem Thema und in diesen 30 Jahren hat sich das Thema extrem gewandelt. Anfangs war das Thema auf die landgebundenen Sektoren wie Forstwirtschaft und Landwirtschaft ausgerichtet. Ich bin sehr dankbar, dass das Thema zum Mainstream geworden ist, weil es tatsächlich eine wichtige Frage stellt: Wie wollen wir Dinge erreichen? Für Unternehmen ist ihre Wirtschaftlichkeit überlebenswichtig, und genauso ist für die Gesellschaft ihre Nachhaltigkeit überlebenswichtig. Die Gesellschaft muss stetig neue Dinge mitdenken.

Ich bin jetzt 55 Jahre alt und in dieser Zeit hat sich die Weltbevölkerung von 3,5 auf 7 Milliarden Menschen verdoppelt. Wir haben jedes Jahr einen Nettozuwachs von 83.000.000 Menschen. Das ist ein Deutschland, das jährlich dazukommt. Da muss man sich fragen, warum haben wir immer mehr Menschen? Einfach, weil unser Wohlstand immer größer wird. Die medizinische Versorgung wird besser, die Kindersterblichkeit geht zurück, die Alterssicherung wird besser, die Menschen leben insgesamt länger, leben besser, leben gesünder, was natürlich auch Konsequenzen hat. Wenn die Menschen in unserer Wohlstandsgesellschaft immer mehr werden, steigt damit verbunden natürlich auch der Ressourcenverbrauch. Die Herausforderung heißt dann: Wie lassen sich die Vorzüge und Möglichkeiten unseres modernen Lebens und unseres gesellschaftlichen Wohlstandes mit nachhaltigem Handeln verbinden? Und das sehe ich eher als Herausforderung, und zwar nicht pessimistisch oder alarmistisch, sondern die Herausforderung heißt: Wie kann Gesellschaft da wirksam sein? Welche Lösungsstrategien haben wir?


Wo liegen denn die großen Hebel? Wie könnten wir das Thema schneller vorantreiben?

Eines vorneweg, es gibt niemanden der ein System komplett versteht. Die Politik fragt mich oft: Sagen Sie Herr Schanz, an welchen Stellen muss ich jetzt drücken, damit es gut wird. Das ist schwierig. Ich kann nur sagen, dass Ordnungspolitik ein großer Hebel ist. Hier muss investiert werden. Prozesspolitik in Form von: „Machen Sie folgendes und Ihr Problem ist gelöst“ funktioniert nicht. Viel wichtiger ist, dass man Nachhaltigkeit als Querschnittsthema begreift und sagt: Lass uns nicht alarmistisch vorgehen. Diese alarmistische Haltung, die wir derzeit haben, ist völliger Quatscht. Sie ist gut geeignet um Öffentlichkeit zu mobilisieren, aber wohin mobilisieren sie diese Öffentlichkeit? Was wollen wir denn damit? Verstehen sie mich nicht falsch. Ich bin sehr dankbar, dass wir über diese Öffentlichkeit das Thema Nachhaltigkeit zu einem Mainstream-Thema machen konnten. Aber was heißt es für die Sache dann? Was heißt es beispielsweise in einer Stadt? Was sind die großen Bereiche, in die wir gehen müssen? Das Thema Energie oder Mobilität isoliert anzuschauen reicht nicht. Alle Städte haben diese Themen im übrigen bereits auf ihrer Agenda. Aber das Thema Ernährung kommt erst jetzt auf, obwohl Ernährung fast 30 Prozent des CO2-Fußabdrucks in einer Stadt ausmacht. Ein anderes großes Thema ist Altbau- und Gebäudesanierung, also „Graue Energie“. Wie viel Energie steckt eigentlich in den Gebäuden und in den verarbeiteten Materialien wie Beton? Das lassen wir derzeit noch außen vor. Da bin ich wieder bei der Ordnungspolitik. Wenn man beispielsweise neue Baugebiete erschließt, muss dieses Thema mitgedacht werden. Auch de Frage, wie lange diese Gebäude eigentlich stehen sollen – mit welchem Material gebaut wird – damit kommt man dann an die großen Hebel, die schlafenden Riesen, die wir momentan gar nicht erst wecken.

Wir verlagern also oftmals das Problem nur in einen anderen Bereich, den wir zu isoliert betrachten?

Das ist ein Suchprozess und dieser Suchprozess muss gestaltet werden. Wir müssen akzeptieren, dass es komplex ist und diese Komplexität darf nicht reduziert werden. Wer Komplexität reduziert und einfache Lösungen anbietet, liefert quasi eine Bankrotterklärung. Ich werde nervös, wenn Aktivisten einzelne klare Vorgaben haben und vermeintlich wissen wie man etwas macht. Damit kippt man einfach zu schnell ins andere Extrem. Und diese Gefahr ist derzeit groß. Dieses Problem lässt sich ja im Bereich der sozialen Medien sehr gut beobachten. Ich bewerte solchen Entwicklungen nicht, sondern muss sie mitdenken in der Debatte. Wir hatten beispielsweise durch IT-Anwendungen bereits 2009 genauso viel CO2-Ausstoß, wie durch den gesamten internationalen Flugverkehr. Und das sind überwiegend private Nutzungen wie Streaming, Fotos und Videos – dessen sind wir uns aber nicht bewusst. Es gibt auf der anderen Seite aber auch Vorteile: Ich kann mit den sozialen Medien auch aktivieren. Ohne Fridays for Future hätten wir zum Beispiel keine Debatten über ethisches Investment. Manchmal frustriert mich diese Komplexität natürlich und ich wünschte auch es wäre einfacher.

Also keine einfachen Antworten bei dem Thema. Haben Sie wenigstens eine Empfehlung, was mache ich denn als einzelner?

Anstelle dem Rat: Kaufen sie vegetarischen und essen sie nur biologisch angebautes Gemüse, würde ich jetzt ganz anders argumentieren. Sie sollten sich grundsätzlich drei Fragen stellen, egal ob es jetzt um Mobilität, Energie oder Ernährung geht. Die erste Frage ist die nach der Suffizienz: Brauche ich das jetzt überhaupt wirklich oder kann ich ohne große Nachteile für mich drauf verzichten? Am Beispiel der berühmten Avocado wäre das: Brauche ich jeden Tag eine Avocado?
Dann kommt die Konsistenz-Frage: Woher kommt die Avocado, hat sie gerade Saison? Wenn ja, wo? Wie weit kommt die denn? Und dann kommt die dritte Frage, die Effizienz-Frage, die lautet hier in dem Beispiel: Wie wurde die Avocado produziert? Ist die ökologisch produziert? Mir bleibt, genau wie vielen anderen, aufgrund der Komplexität unseres Weltmarkts nichts anderes übrig, als sich auf die Angaben der Produzenten zu verlassen. So können sie jedes Mal für sich entscheiden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. So kommen Sie eigentlich ganz nah bei dem raus, was sie eingangs mit gesundem Menschenverstand meinten.

»Bei Nachhaltigkeit geht es auch darum, das wir alle Verantwortung übernehmen müssen und ein Bewusstsein für das Thema brauchen. Freiheit ist nur die andere Seite der Medaille von Verantwortung. Wenn ich frei leben möchte, habe ich zeitgleich die Verantwortung dafür. Und damit kommen wir ganz gut hin, es ist halt nur nicht einfach.«

Heiner Schanz

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